von Benjamin Myers übersetzt aus dem Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, erschienen im März 2020 im DuMont Verlag auf 270 Seiten. Erhältlich für 20,00 EUR
ISBN: 978-3-8321-8119-2/Anzeige
England, 1946. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Es fehlt an Vielem und die Schrecken sind noch gegenwärtig. Gleichzeitig scheinen die Geschehnisse weit entfernt. Der 16jährige Robert will seinem Vater folgen und Bergarbeiter werden. Auch an Mangel an Alternativen. Aber bevor es soweit ist und er den Rest seines Lebens unter Tage verbringen wird, will er sich seinen Wunsch erfüllen und durch das Land reisen. Sein Ziel ist die Offene See.
Kurz bevor Robert bei seinem Ziel ankommt, stolpert er in das Cottage einer älteren Dame und ihrem Schäferhund. Robert lässt sich schnell von Dulcie einnehmen. Unverheiratet, mit der einzigen Gesellschaft von Butters, ihrem Hund, einer klaren Meinung zu Allem und mit der Lösung für nahezu jedes Problem, ist Robert beeindruckt von der unabhängigen Frau und ihrem Lebensentwurf. Er bleibt länger als geplant. Die Fortsetzung seiner Reise verschiebt er um ihr mit dem Grundstück zu helfen. Sie bittet ihn nie zu bleiben, aber doch wirkt es so, als wenn beide sich für's Erste nicht wieder trennen möchten.
Von Dulcie's Cottage aus wäre die Offene See sichtbar. Doch als Robert die Hecken stutzen möchte um die Sicht freizugeben, stößt er auf starken Widerstand, den er so bisher nicht von ihr kannte. Und nach und nach wird klar, dass Dulcie mit einem großen Verlust zu leben scheint. Die Offene See ist eine Sehnsucht von beiden Charakteren. Aber aus unterschiedlichen Perspektiven.
"Zwischen den tiefen, schnell treibenden Regenwolken und der See war etwas Diffuses in Bewegung, eine sich unablässig verändernde Form, wie ein Insektenschwarm. In Wahrheit waren es breite Streifen Regen über dem Meer, die sich verbanden und wieder trennten, während sie von den kälteren Winden des nördlichen Erdteils herangetragen wurden. Es sah aus, als würde das Meer selbst hinauf in den Himmel gesogen."
So verbringt Robert Wochen bei Dulcie, die sein Leben mehr formen und beeinfluss werden, als er zuerst annehmen kann.
"Offene See" könnte man fast schon poetisch beschreiben, Roberts Sicht auf die Welt und die Naturbeschreibungen von Englands Küste. Es wirkt hin und wieder etwas aus der Zeit gefallen. Myers erzählt unaufgeregt und ruhig. Er lässt seinen Charakteren ihren eigenen Weg gehen und berichtet vom Mut Erwartungen, die die Gesellschaft an einen stellt, nicht zu erfüllen. Beide Charaktere machen eine Entwicklung in der Geschichte durch und wachsen aneinander.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und konnte mich schnell auf den Erzählstil einlassen. Es geht um viele kleine Momente. Um Beobachtungen und Beschreibungen, die das große Bild vom Leben zusammen setzen. Dulcie trifft mit ihrer Vergangenheit, die zuerst unentdeckt bleibt, auf Robert, dessen Erwartungen für sein Leben relativ bescheiden sind und der seinen eigenen Weg noch nicht gefunden hat. Beide lernen viel voneinander und spiegeln sich in dem Anderen.
Es geht um die Schönheit der Landschaft, das Genießen von Mahlzeiten, tiefe Gespräche, die beide aus der eigenen Komfortzone herausholen. Es geht um Freiheit, Freundschaft, Verlust und Trauer. Und natürlich auch um Lyrik und Literatur.
"(...)Du kannst mir glauben, alles, was du je gefühlt hast, wurde vor dir schon von einem anderen menschlichen Wesen gefühlt. (...) Durch Dichtung vermittelt uns die Menschheit, dass wir nicht völlig allein auf der Welt sind."
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