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Das Fluchtparadox - Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen

von Judith Kohlenberger, erschienen im August 2022 im Kremayr & Scheriau Verlag auf 240 Seiten. Erhältlich für 24,00 EUR

ISBN: 978-3-218-01345-1/Anzeige


In unseren Demokratien gelten universelle Menschenrechte wie Freiheit und Gleichheit für alle. Jede und jeder ist vor dem Gesetz gleich. Kein Mensch ist mehr wert als ein anderer. Dies und mehr haben wir in den Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention festgehalten. Doch es gib Paradoxien, die unseren Umgang mit Geflüchteten und Schutzsuchenden absurd wirken lassen.


Die Autorin hat sich die tatsächliche und symbolische Reise der Flüchtlinge angeschaut, und findet Fluchtparadoxien in drei Bereichen. Das Asylparadox taucht bei der Ausreise bzw. bei der Einreise, bei Asylantragstellung auf, das Flüchtlingsparadox bei der Aufnahme im neuen Land und das Integrationsparadox bei der Integration in die sozialen, ökonomischen und kulturellen Strukturen der neuen Gesellschaft.

Mit diesen drei Paradoxien beschäftigt sich Kohlenberger in ihrem Buch und ruft zu mehr Verantwortung auf und zeigt uns, wie verzerrt unser Bild von Schutzsuchenden ist.


Das Asylparadox (rechtliches Paradox)

Das Asylparadox heißt nichts anderes, als dass Geflüchtete Recht brechen müssen um ihr Recht auf Asyl wahrzunehmen. Zwar haben Menschen ein Recht auf Asyl und die Prüfung ihrer Situation, aber es gibt bislang keine legalen Flüchtlingswege oder Möglichkeiten Asyl außerhalb Europas einzureichen. Flüchtlinge müssen also illegal, das heißt ohne gültiges Visum, ohne vorhandenen Aufenthaltsstatus, und ohne Einreisegenehmigung, die Grenzen passieren. Das ist absolut unsinnig. Die Mehrheit der Ankommenden hat gar keine andere Möglichkeit als die Grenzen illegal zu überschreiten. Der legale Aufenthaltstitel kann erst innerhalb der Grenzen beantragt und bewilligt werden. Es fehlt an legalen und sicheren Fluchtwegen. Durch mehr Kontrolle im Bereich des Asyslrechts und dem Zugang zum Asylrecht, steigt auch die wahrgenommen und tatsächliche Illegalität bzw. die Zahl der sogenannten illegalen Aufgriffe. Wenn also reguläre Migration sinkt, steigt Asylmigration an. Wenn ein Staat legale Migration senkt, nimmt er damit in Kauf, dass Menschen auf die Asylschiene umgelenkt werden. Mehr Überwachung bedeutet außerdem, dass Menschen auf immer gefährlichere Routen und Möglichkeiten zurückgreifen und die Hilfe von Schleppern suchen.


Das Flüchtlingsparadox (demokratische Paradox),

Geflüchtete Menschen treffen auf widersprüchliche Ansprüche in den neuen Staaten und Ländern, die sie aufnehmen. So soll der Geflüchtete z. B. schutzbedürftig aber dennoch selbstständig sein. Außerdem gelten für "Flüchtlinge" Gesetze, über die die Geflüchteten selbst nicht mitentscheiden dürfen, da sie keine BürgerInnen des neuen Landes sind. Die Geflüchteten werden in gewissem Sinn entmenschlicht.




Das beschriebene Integrationsparadox, beschrieben von Aladin El-Mafalani

Wer es als "Flüchtling" geschafft hat, die (deutsche) Staatsbürgerschaft erhalten hat oder in zweiter Generation hier lebt, soll sich integrieren bzw. bestenfalls schon integriert haben. Die Integration sollte aber möglichst unauffällig ablaufen und ohne Teilhabekonflikte. So hat die Gesellschaft nichts gegen eine integrierte Reinigungsfrau mit Kopftuch. Aber eine integrierte Frau mit Kopftuch als Lehrerin in der Schule oder in der Chefetage bitte nicht.


Um unsere aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken zu verstehen, müssen wir uns neben diesen Pardoxien auch mit dem kulturellen Rassismus auseinandersetzen. So steht eine westliche Gesellschaft einer zu fremden Kultur (z. B. Afghanistan) und einer noch akzeptablen (Ukraine) unterschiedlich gegenüber. Die eine wird mehr akzeptiert als die andere. So geht die Autorin ebenfalls auf die Flüchtlingsströme aus der Ukraine ein und wie der Westen diese im Vergleich zu anderen Schutzsuchenden kommuniziert, erklärt und einordnet.


Flucht- und Migrationsursachen bleiben bestehen. Egal, ob politisch, wirtschaftlich oder familiär. Wir müssen mit diesen umgehen und humane Lösungen finden, die den Menschenrechten entsprechend. Gefährlich wird es immer dann, wenn MigrantInnen und Geflüchtete in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen als Druckmittel eingesetzt werden. Menschen werden für politische Zwecke Instrumentalisiert. Und dieses Druckmittel wirkt.


Was vermittelt unsere aktuelle EU-Asylpolitik? Warum haben EuropäerInnen scheinbar vor nichts mehr Angst als vor der Ankunft Schutzsuchender in ihrem Land? Und warum können sich Parteien und Staaten damit gegenseitig unter Druck setzen? Wie kann es sein, dass unsere Demokratie und unsere Werte und Rechtsstaatlichkeit durch die Schutzsuchenden angeblich ins Wanken gebracht wird und wir uns abschotten und abgrenzen möchten? Auf all diese Themen geht die Autorin ein und erklärt anhand von aktuelle Beispielen.

Wir scheinen die Ankunft von Geflüchteten tatsächlich als Aggression zu betrachten, sonst hätten anderen Staaten gar kein Druckmitteln in der Hand. Diese Instrumentalisierung funktioniert nur, wenn wir diese Menschen als Gefahr oder Last erklären. Und das tun wir mit Begriffen wie (Flüchtlings)"Flut" oder (Flüchtlings)"Krise".


Die EU sollte mehr Verantwortung übernehmen, zu ihren Internationalen Menschenrechten stehen und die Geflüchteten aufnehmen und verteilen. Damit wäre das Druckmittel "Flüchtlinge" wirkungslos.


"Westliche Aufnahmeländer brauchen geflüchtete Menschen. Als Arbeits- und Fachkräfte. Um den Sozialstaat zu erhalten und der alternden Gesellschaft entgegen zu wirken."


Es entscheidet noch immer der Zufall unserer Geburt darüber, ob wir im Globalen Norden mit der größten Bewegungsfreiheit geboren werden oder in einem Land wie Syrien, Afghanistan oder Irak, Ländern mit den höchsten Flüchtlingsaufkommen der Welt. Unsere Staatsbürgerschaft entscheidet damit über unsere Chancen und Möglichkeiten im Leben.


In unserer Verantwortlichkeit liegt es also, die Anderen und Fremden zu Humanisieren. Wir übernehmen eine moralische Verantwortung, in dem wir den Geflüchteten als Einzigartig begreifen und uns versuchen in ihn hinein zu versetzen.



"Wenn (...) Sie noch nicht wissen können, ob Sie als Afghanin oder als Österreicherin geboren werden, welches Einwanderungsregime, welche Grenzkontrollen, welche Form der humanitären Aufnahme, welches internationalisierte Passsystem würden Sie sich wünschen? Wenn die Chance, auf internationalen Schutz angewiesen zu sein mindestens genauso groß ist, wie diesen Schutz gewähren zu müssen, worauf würden Sie sich einlassen?"


"Im Zweifel für den Schutz."



Judith Kohlenberger arbeitet als Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin in Wien. Sie forscht und lehrt zu Fluchtmigration, Integration und Zugehörigkeit. In ihrem Buch "Das Fluchtparadox" bezieht sie sich auch immer wieder auf Studien aus ihrer eigenen Arbeit und Forschung. "Das Fluchtparadox" war 2023 für das beste Sachbuch nominiert.


Ihr Buch spiegelt insbesondere die politischen und gesellschaftlichen Themen und Debatten in Österreich wieder. Die drei Paradoxien lassen sich jedoch auch auf Deutschland und gesamt Europa übertragen. Mit knapp 211 Seiten (inkl. Anhang & Quellen) ist das Buch relativ schmal. An der ein oder anderen Stelle gab es auffallende Wiederholungen, insgesamt aber wirklich lesenswert und wichtig sich mit diesem Text auseinanderzusetzen. Ein paar mehr Lösungsansätze neben der Übernahme der Verantwortlichkeit hätte ich mir gewünscht. Die Probleme sind klar benannt und erklärt, wie es aber zu einer gesellschaftlichen und politischen Neuausrichtung kommen kann bleibt offen.




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